Neurokybernetik der Körperhaltung – Dr. O. Ludwig, Prof. Dr. Ed. Schmitt
Vorbemerkung
Die Diskussion um Haltungsschwächen, gerade bei Kindern und Jugendlichen, ist geprägt von einer orthopädisch-mechanischen Sichtweise. Anlehnend an die Haltungstypen nach Staffel (1889) beurteilt die Orthopädie Körperhaltung in der Regel als das Ergebnis einer statischen Momentaufnahme. Dadurch ergibt sich zwangsläufig ein großes Problem: während sich pathologische Fehlstellungen meist eindeutig benennen lassen, ist der Übergang zwischen der „normalen“ Haltung und der Haltungsschwäche nicht klar abgegrenzt. Einerseits sind Normwerte für die Körperhaltung nicht klar definiert (Wydra 2004), so dass die Einschätzung einer Haltungsposition zwischen verschiedenen Fachärzten oft erheblich differiert, andererseits ist der Therapiebedarf von Haltungsschwächen umstritten.
Körperhaltung mechanisch betrachtet
Die Ursache für die Schwierigkeiten liegt in einer rein mechanischen Betrachtungsweise der Körperhaltung, die von einem statischen Gleichgewicht ausgeht. Vereinfacht dargestellt sieht die Mechanik den menschlichen Körper lediglich als einzelne Elemente (Beine, Becken, Rumpf mit Ar-men und Kopf), die übereinander gestapelt sind wie Bauklötzchen und so „verschoben“ werden müssen, dass der Gesamtkörper steht (Abb. 1a). Ein wenig komplizierter wird die Betrachtung, wenn die Beweglichkeit einzelner Elemente zugelassen wird. Dann verspannen Muskeln und Sehnen den Knochenapparat, so dass das Gesamtgebilde immer noch im (statischen!) Gleichgewicht bleibt.
Dieses Modell ist immer noch weit verbreitet, denn mit ihm lassen
sich Haltungsschwächen auf einfache und plausible Weise erklären. Dabei
wird das Becken als eine Wippe angesehen, auf dem die Lendenwirbelsäule
auflagert und das auf den Oberschenkelknochen ruht. Dieses labile
Gleichgewicht wird durch antagonistisch arbeitende Muskelgruppen
aufrecht erhalten. Zum einen ziehen die Gesäßmuskeln den hinteren
Beckenanteil nach unten und bewirken damit eine Aufrichtung (Anhebung
des vorderen Beckenkamms). Synergistisch wirkt die gerade
Bauchmuskulatur, in dem sie die Vorderseite des Beckens nach oben zieht.
Antagonistisch hingegen wirken die Hüftbeugemuskeln, insbesondere der
Musculus iliopsoas (Kreuzdarmbeinmuskel). Um das Erklärungsmodell zu
komplettieren, bedient man sich zusätzlich der Unterteilung der
Muskulatur in die Kategorien der zur Verkürzung neigenden und zur
Abschwächung neigenden Muskelgruppen. Diese vereinfachte Sichtweise und
die Betrachtung eines „verkürzten“ Muskels als Folge einer veränderten
Muskelmechanik wird mittlerweile kritisch hinterfragt. (Klee 1993).
Dennoch liefert dieses etablierte Modell eine einfache Erklärung für
das Zustandekommen von Haltungsschwächen. Schwächt sich nämlich die
Bauch- und Gesäßmuskulatur ab und verkürzt sich gleichzeitig der
Hüftbeuger (zum Beispiel durch langes Sitzen), so kippt das Becken und
mit ihm die Lendenwirbelsäule nach vorne. Da der Körper den oberen Rumpf
aufrichtet, entsteht so das typische Hohlkreuz bzw. der Hohlrundrücken
(Abb.2) Entsprechend wird nach mechanischer Sicht auch oft therapiert.
Aufbau der Bauch- und Glutaealmuskulatur, Dehnung der Hüftbeuger.
Körperhaltung unter dem Aspekt des Gleichgewichts
Den menschlichen Körper im Gleichgewicht zu halten, beinhaltet zwei Aspekte:
- das externe Gleichgewicht in Beziehung zur Umwelt: der Körper darf nicht umfallen.
- das interne Gleichgewicht der Körpersegmente zueinander: die
Positionierung der Körpersegmente muss eine dauerhafte Überlastung
verhindern.
Um den Unterschied zu verdeutlichen , hilft ein kurzer Blick in die Physik: ein Körper befindet sich dann im externen Gleichgewicht, wenn die Lotlinie durch seinen Körperschwerpunkt innerhalb der Unterstützungsfläche liegt.
Die Unterstützungsfläche ist im Normalfall die Fläche zwischen den
beiden Fußsohlen ungefähr von der Größe eines DIN A3-Blattes. Der
Körperschwerpunkt ist etwa in der Höhe des Bauchnabels lokalisiert, das
Lot hierdurch trifft die Unterstützungsfläche fast mittig im Bereich des
Mittelfusses, liegt also vor den Knöcheln. Wie auch im-mer der Körper
seine einzelnen Segmente (Rumpf, Arme und Kopf) ausrichtet: so lange der
Körperschwerpunkt innerhalb der Unterstützungsfläche bleibt, fällt er
nicht um. Lehnen wir den Rumpf nach vorne, so verhindern wir ein
Umfallen , indem wir die Arme nach hinten strecken. Dadurch „ziehen“ wir
den Körperschwerpunkt ebenfalls wieder nach hinten.
Dies impliziert eine wichtige Folgerung: von der Position des
Körperschwerpunktlotes können wir keine Rückschlüsse ziehen auf die
Ausrichtung der Körpersegmente zueinander. (Duysens et al. 2000).
Dies führt uns zum internen Gleichgewicht: wenn es beliebig viele
interne Möglichkeiten gibt, um das externe Gleichgewicht zu halten (also
ein Umfallen zu verhindern), dann stellt sich die Frage, welche davon
unser Zentralnervensystem präferiert. Damit sind wir im Bereich der
Haltungsschwäche angelangt. Zweifelsohne handelt es sich dabei nicht um
eine Störung des externen Gleichgewichts, vielmehr ist die Ausrichtung
der Körpersegmente so verschoben, das eine Störung des internen
Gleichgewichtes zu vermuten wäre. Im biologischen Sinne bedeutet dies:
jede biologische Struktur, sei dies ein Gelenk, eine Sehne oder ein
Muskel, ist mechanisch oder funktionell für ein Belastungsoptimum
ausgelegt. Im Laufe der körperlichen Entwicklung passt sich die Struktur
der Knochen über ein System aus Knochenbälkchen beispielsweise an die
Hauptbelastungsrichtung an. Gehen wir davon aus, dass der Körper
bestrebt ist, dieses Belastungsoptimum beizubehalten, so hätten wir ein
Kriterium, nach dem das Zentralnervensystem (ZNS) ein internes
Gleichgewicht aufrecht zu erhalten versucht. Störungen der optimalen
Belastung einer Struktur (z.B. einer Gelenkflä-che) durch eine Störung
des internen Gleichgewichtes (z.B. durch eine Hohlkreuzposition der LWS)
führen zu einer dauerhaften Überlastung der Struktur (z.B. verstärkte
einseitige Abnutzung des Gelenkknorpels) und irgendwann zu Beschwerden.
Besonders bedeutsam ist dies im Kindes- und Jugendalter, da zu
befürchten ist, dass die Anpassung der plastischen Strukturen, wie der
Bälkchenkonstruktion im Röhrenknochen, durch eine ungünstige
Positionierung der Körpersegmente nicht optimal sein wird.
Welche
„Optimierungsstrategien“ das ZNS nutzt, um Körperhaltung und Bewegung zu
regeln, ist bislang nicht endgültig wissenschaftlich geklärt (Allum et
al. 1998).
Körperhaltung in der rein mechanischen Sichtweise wird meistens als
starres Endergebnis einer Ausrichtung von internem und externem
Gleichgewicht angenommen. Entsprechend wird die Haltungsdiagnostik auch
meistens anhand einer Momentaufnahme des menschlichen Körpers
durchgeführt. Allerdings ist die menschliche Haltung nur bei tiefer
Bewusstlosigkeit unverändert – ansonsten ist die Körperhaltung das
momentane Ergebnis einer ständigen Bewegung. Ein kurzer Rückblick in die
Mechanik macht auch klar, warum: unser Körper mit seinem hoch liegenden
Schwerpunkt befindet sich ständig im labilen (Un-)Gleichgewicht. Hinzu
kommt, dass unsere Körpersegmente sehr beweglich aufgebaut sind und
daher das ZNS ständig zwei Aufgaben im Stehen zu erfüllen hat:
- zu verhindert, dass unser Körper in sich zusammensackt (also das interne Gleichgewicht aufrecht zu erhalten)
- zu verhindern, dass unser Körper umkippt (also das externe Gleichgewicht zu garantieren)
Um diese Aufgaben zu erfüllen, sind die verarbeitenden Instanzen im ZNS auf sensorische Rückmeldungen angewiesen.
Sensorik der Haltungsregelung
Tiefensensibilität
Schließen wir die Augen, so haben wir dennoch einen klaren Zustand von der Position unseres Körpers. Wir wissen ob die Arme angewinkelt sind oder frei baumeln, wir fühlen, ob der Oberkörper vor- oder rückgeneigt ist. Diese Informationen erhält unser Gehirn aus Sinneszellen im Bereich der Gelenke, Muskeln und Sehnen. Diese sensorische Information fasst man unter dem Begriff der Propriozeption oder Tiefensensibilität zusammen.
In den Muskeln melden die Muskelspindeln den Verkürzungszustand der
Muskulatur an das ZNS zurück. In den Sehnenansätzen messen die
Golgi-Sehnenorgane die Spannung in der Sehne und verhindern über Reflexe
beispielsweise eine Überlastung der Sehne. Beide Rezeptotypen zusammen
liefern damit Information über die Kraft, die ein Muskel entfaltet.
In den Gelenkkapseln befinden sich korpuskuläre Sinneszellen und
freie Nervenendigungen. Wird durch eine Bewegung im Gelenk die
Gelenkkapsel gedehnt oder gestaucht, so erhält das Gehirn nicht nur
Information über die Stellung des Gelenkes, sondern auch über die
Geschwindigkeit der Bewegung. Allein das Kniegelenk enthält etwa 1200
korpuskuläre Rezeptoren und freie Nervenendigungen (Schmidt 1985).
Die propriozeptiven Informationen dienen also vor allem dazu, dem ZNS
die notwendigen Informationen zu liefern, die benötigt werden, um das
interne Gleichgewicht zu garantieren (Allum et al. 1998)
Mechanorezeption
Vor allem druckempfindliche Sinneszellen in der Fusssohle liefern wesentliche Information über die Verteilung des Druckes und damit indirekt auch über die Verlagerung des Körperschwerpunktes nach vor-ne oder hinten. Dies sind vor allem Pacini-, Ruffini- und Meissner-Körperchen, die Druck und Druckänderungen wahrnehmen. Auf diese Weise erhält das ZNS Informationen, die zur Aufrechterhaltung des externen Gleichgewichts wichtig sind, da erfasst werden kann, wann der Körperschwerpunkt droht, die Unterstützungsfläche zu verlassen.
Gleichgewichtsorgan
Das im Innenohr lokalisierte Vestibularorgan besteht aus einer dreidimensionalen Bogengangstruktur, die mit einer Flüssigkeit gefüllt ist. In jedem Bogengang ist ein so genanntes Maculaorgan eingebettet, das den Verlauf der Schwerkraft und damit die Ausrichtung ges Kopfes im Raum messen kann. Ebenso können Drehbewegungen des Kopfes wahrgenommen werden, weil die in den Bogengängen enthaltene Flüssigkeit träge ist und der Kopfdrehung nur langsam zeitverzögert folgt. Die Maculaorgane erlauben es dem ZNS, die Position des Kopfes im Bezug zum Boden exakt zu messen.
Betrachten wir die Information des Gleichgewichtsorganes, so fällt
ein Manko auf: wenn wir den Kopf zur Seite neigen, so werden die
Sinnesrezeptoren diese Stellung dem ZNS mitteilen. Beugen wir
stattdessen den Oberkörper komplett zur Seite, so geben die
Gleichgewichtsrezeptoren die genau gleiche Information, weil die
Kopfposition dieselbe ist (Abb.5). Damit das ZNS beide Zustände
voneinander unterscheiden kann, wird die propriozeptive Information aus
der Halsmuskulatur und den Halswirbelgelenken hinzugezogen. Erst dadurch
wird es möglich, beide Positionsvarianten eindeutig voneinander zu
unterscheiden. Die korrekte Funktion unseres Gleichgewichtsorganes ist
also an die korrekte Funktion der Rezeptoren in Halsmuskeln und –
gelenken gebunden. Dem entsprechend wirken pathologische Tonusänderungen
in diesen Muskelbereichen und Blockaden in den Halswirbelgelenken auch
auf die Verarbeitung der Haltungsinformationen ein und können die
Körperhaltung beeinflussen.
Integration der Systeme
Die sensorische Information der Propriozeptoren, Mechanorezeptoren und des Vestibularorgans laufen über afferente (zuführende) Nervenfasern zum Hirnstamm. Oberhalb des Hirnstammes liegen die motorischen Zentren der Basalganglien und des Motorcortex (Abb.6), die über Nervenstränge miteinander verbunden sind (Atwood & MacKay 1994). Mit dem Hirnstamm sind ebenfalls afferente und efferente Nervenfasern des Kleinhirns verbunden. Durch Ausschaltversuche weiß man heute, dass die unbewusste Körperhaltung vor allem durch Halte- und Stellreflexe in den motorischen Zentren des Hirnstammes geregelt wird (Dimitrijevic et al.2000. Allum et al 1998). Die übergeordneten ( „supraspinalen“) Hirnzentren modulieren diese Regelsysteme jedoch. Beispielsweise senden die motorischen Zentren im Cortex immer dann, wenn eine bewusste Bewegung geplant wird, einen „Durchschlag“ dieser efferenten Anweisungen (die die Muskulatur steuern soll) an die Zentren, die die Körperhaltung regeln. Diese „Efferenzkopie“ erlaubt es den Halte-Zentren vorherzuplanen, welche Änderung der Statik in Kürze auftreten wird und folglich die Aktivität der Haltemuskulatur entsprechend zeitgleich zu verändern (Schmidt 1985).
Das Stammhirn hat eine wichtige Funktion, nämlich die Filterung der
eintreffenden Signale aus der Peripherie. Einem Signal-Input von einer
Milliarde Bits pro Sekunde durch die Rezeptoren der Tiefensensibilität,
des Auges, der Haut und des Ohres steht ein Signal-Output von nur 10
Millio-nen Bits pro Sekunde (Motorik und Sprache) gegenüber. Bewusstes
Wahrnehmen verarbeitet sogar nur 150 Bit pro Sekunde (Loosch 1999). Dies
bedeutet das ein großer Teil der sensorischen Information
vorverarbeitet und gefiltert wird.
Optischer Sinn
Bei der Betrachtung der für das Aufrechterhalten und Regulieren der Körperhaltung notwendigen Sinnesreize wird der optische Sinn in seiner Bedeutung oft unterschätzt. Tatsächlich hat er aber in unserer Alltagswelt einen hohen Stellenwert. Psychologie und Physiologie unterscheiden dabei zwei visuelle Systeme: Das focale Sehen, das mit bewusster Wahrnehmung (z.B. von Formen, Gesichtern etc.) gekoppelt ist und das ambiente Sehen, das unterbewusst verarbeitet wird und der motorischen Kontrolle dient (Loosch 1999). Gerade bei Gleichgewichtsbewegungen stellt das ambiente visuelle System einen „schnellen Kanal“ zur Verfügung, der am Bewusstsein vorbeigeleitet wird. Dieses System spricht vor allem auf Änderungen im optischen Fluss an (sozusagen auf Verschiebungen des Bildes auf der Netzhaut) man kann binnen 100 Millisekunden eine Reaktion in der Haltemotorik bewirken (Prentice & Drew 2001).
Körperhaltung neurologisch betrachtet
Die Betrachtung der
neurologischen Verschaltung macht klar, dass Körperhaltung stets das
aktive Produkt einer genau geregelten Muskelaktivität ist (Dietz 1996).
Wir sprechen in diesem Zusammenhang von neurokybernetischen Prozessen.
Abweichungen der Körperhaltungen treten stets auf, weil wir uns in einem
labilen Gleichgewichtszustand befinden. Eine minimale Änderung des
Tonus eines haltungsbeeinflussenden Muskels wird automatisch die Lage
des Körperschwerpunktes ändern und damit auch die sensorischen
Informationen der Propriozeptoren (Duysens et al. 2000, Patla et al.
1999). Die motorischen Zentren im Hirnstamm reagieren darauf direkt mit
einem Korrekturprogramm, das aus Tonuserhöhung bzw. Tonusverminderung
einzelner Haltemuskeln besteht. So pendeln wir stets labil um einen
Gleichgewichtszustand. Abb. 7 zeigt , das unser Körperschwerpunkt auch
bei bewusst ruhigem Stand stets schwankt.
Haltung ist also mitnichten ein statischer Zustand. Auch
Haltungsschwächen lassen sich dem entsprechend nicht allein durch
statische Untersuchungsmethoden bewerten.
Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Körperhaltung und
koordinativen und Gleichgewichtsfähigkeiten zeigen eine deutliche
Koppelung (Orosz 2003,Specht 2003, Ludwig et. al. 2003) . Dies
verwundert nicht, denn sowohl das Aufrechterhalten einer „stabilen“
Körperhaltung als auch die Durchführung komplexer Bewegungsmuster
erfordern die genaue Abstimmung einzelner Muskelgruppen aufeinander,
also die Optimierung von motorischen Programmen; es greifen dieselben
neuronalen Prinzipien.
Da die Zahl der Sinnesrezeptoren durch Üben und Trainieren nicht
zunimmt, muss der eigentliche Lern und Optimierungsvorgang im zentralen
Nervensystem stattfinden (Winter 1995). Es ist bekannt, das die interne
Verschaltung im ZNS bei Lernvorgängen modifiziert wird. Dies ist ein
wichtiger Aspekt: Die Summe der Eingangssignale aus den Sinneszellen
ändert sich nicht, wohl aber ihre Verarbeitung im Hirnstamm. Der Anteil
der zur Koordination von Bewegungen eingesetzten vielfältigen
sensorischen Informationen kann jedoch durchaus variieren. Aus diesem
Grund sind Gleichgewichtsfähigkeiten trainierbar: Die Verarbeitung der
Signale aus dem Innenohr wird dabei optimiert und die motorischen
Programme zur Haltungskorrektur, die sich daraus ableiteten, werden
verbessert.
Die Psychologie geht von einer Dominanz unseres visuellen System bei
der Bewältigung von Alltagsaufgaben aus. Unser typischer Tagesablauf ist
durch Inaktivität geprägt, mit der Folge, dass der Anteil der
propriozeptiven Signale, des Innenohrs und der Hautmechanorezeptoren an
der Aufrechterhaltung der Körperhaltung abnimmt. Parallel dazu
verstärken unsere täglichen Herausforderungen (Arbeiten am Computer,
Autofahren, Fernsehen, Spielekonsolen) den Anteil der visuellen
Information am Gesamtpotenzial der sensorischen Information: Die „Waage
der sensorischen Information“ verlagert sich immer mehr zugunsten einer
visuellen Dominanz und zuungunsten der propiozeptiven Anteile.
Im Bereich der Haltungsdiagnostik lässt sich dies gut belegen, indem
die aktive Körperhaltung mit geöffneten und geschlossenen Augen
verglichen wird. Abb. 8 zeigt eine Vergleichsanalyse mit dem
Haltungsmesssystem CORPUS. Die zunächst stabile aktive Haltung des
Jugendlichen führt sofort zu einer Vorverlagerung des kompletten
Rumpfes, sobald die Augen geschlossen werden. In diesem Falle ist
folgendes passiert: mit dem Wegfall der sensorischen Information aus dem
visuellen ambienten System können zur Haltungsregelung nur noch die
Eingangssignale der Propriozeption, der Hautmechanorezeptoren und des
Vestibularorganes eingesetzt werden. Sind Defizite in der
Vorverarbeitung dieser Information im Mittelhirn vorhanden, so droht die
Körperhaltung instabil zu werden. Durch die Vorverlagerung des Rumpfes
verschiebt sich der Körperschwerpunkt nach vorne und der Druck auf dem
Vorfuß nimmt zu. Auf den verstärkten Druckreiz antworten die
Mechanorezeptoren unter der Fußsohle mit einem starken Signal, das im
Mittelhirn verarbeitet wird. Über diesen „Trick“ sorgt damit das ZNS für
einen starken Input, um die Haltung zu stabilisieren und das externe
Gleichgewicht zu garantieren (Abb. 9 zeigt dieses Denkmodell
schematisch.)
Konsequenzen für die Haltungsbeurteilung
Haltungsschwächen
sind – als Folgerung aus diesen Betrachtungen – daher nie als ein
statisches Problem zu sehen. Sie treten auf, wenn das ZNS nicht in der
Lage ist, aus der Vielzahl der eingehenden sensorischen Signale über
eine korrekte Signalverarbeitung die adäquaten motorischen Programme zur
Ansteuerung der Haltemuskulatur zu erstellen. Dabei sind
Erklärungsmodelle wie schwache oder verkürzte Muskeln eigentlich
untergeordnete Fragestellungen. Natürlich muss ein Muskel über eine
ausreichende Zahl kontraktiler Proteinfilamente und ausreichende
Energievorräte verfügen, um die notwendige Kraft erzeugen zu können, die
zur Stabilisierung eines Körpersegmentes gebraucht wird. Dem
entsprechend ist muskuläres Aufbautraining zur Haltungsschulung
sinnvoll. Dennoch wird die Muskelkraft letztlich durch differenzierte
Innervierung und Ansteuerung durch das ZNS erzeugt. Der potenziell
stärkste Muskel nützt zur Haltungsregelung nichts, wenn er nicht
zielgerichtet angesteuert wird. Analog muss auch das Modell des
„verkürzten“ Muskels gesehen werden. Neben der anatomischen Komponente
(z.B. Titin-Moleküle, welche einen mechanischen Beitrag zur Verkürzung
leisten), muss auch die neurophysiologische Komponente betrachtet werden
(Tonuserhöhung führt zur scheinbaren Verkürzung).
Haltungsanalyse kann und muss demnach nach unserer Sicht zwei Komponenten enthalten:
1.Betrachtung der anatomisch-mechanischen Komponente und der Muskelkraft (statischer Anteil)
Als Beispiel hierfür sei neben der Analyse der Rückenform der Matthiass
Test genannt (Matthiass, 1966). Die Verlagerung des Körperschwerpunktes
zur Aufrechterhaltung des externen Gleichgewichtes führt zu einer
starken Änderung des internen Gleichgewichtes, also zur Verschiebung von
Körpersegmenten gegeneinander (Rückverlagerung des Rumpfes, Abb. 10).
Der Matthiass-Test kann, da er über einen Zeitraum von 60 Sekunden
ausgeführt wird, eine Aussage darüber erlauben, ob die Kraft der
Rumpfmuskulatur ausreicht, den Körper aktiv in der Ausgangsposition zu
halten. Ein Rückschluss auf isolierte Muskeln ist hingegen nicht
möglich. Zur muskulären Ermüdung kommt noch die neuronale Ermüdung
hinzu, so dass auch der Aussagegehalt dieses Testes durchaus kritisch
gesehen wird (Winchenbach 2003, Klee 1996)
2.Betrachtung der neurologisch-regulativen Komponente (dynamischer Anteil)
Hierfür schlagen wir einen Vergleich der aktiven Haltung mit geöffneten
und geschlossenen Augen vor. Durch das Einnehmen einer aktiven Haltung
wird die Körperposition zunächst bewusst geregelt. Zur Haltungskorrektur
werden, wie oben dargestellt, zusätzlich zur Tiefensensibilität die
Signale des ambienten visuellen Systems eingesetzt. Schließt der Proband
nun die Augen, so ist – bei Defiziten in der propriozeptiven
Signalverarbeitung – ein Haltungsverfall zu beobachten (Abb. 11)
Dieser lässt sich mit digitaler Haltungsanalyse (z.B. CORPUS-System)
objektivieren. In diesem Fall kann eine Störung der Haltungsregelung,
bzw. eine Dominanz des visuellen Systems diagnostiziert werden. Die zur
neurokybernetischen Regelung der Körperposition verwendeten sensorischen
Informationen stammen dann vorwiegend aus dem visuellen System, während
tiefensensible afferente Signale nur einen untergeordneten Beitrag
leisten. Fällt die optische Information nun weg, so sind die reduzierten
und vorgefilterten propriozeptiven Informationen für ein Aufrechthalten
der Körperposition nicht ausreichend. Der therapeutische Ansatz zielt
in diesem Fall klar auf eine Verbesserung der Gleichgewichtsfähigkeiten
und ein Training der Körpereigenwahrnehmung. Ein reines Training der
Muskelkraft und eine Verbesserung der Dehnbarkeit würde in diesem Fall
ins Leere zielen, da die Ansteuerung der Haltemuskulatur defizitär ist.
Kann ein Proband eine aktive Körperhaltung nicht bewusst einnehmen,
so ist dies zunächst kein Hinweis auf eine zu schwache Muskulatur,
sondern auf ein Defizit in der Körperwahrnehmung. Er kann Teile der
Haltemuskulatur nicht bewusst ansteuern, weil seine motorischen Programm
unzureichend sind. Auffällig ist, das auch in solchen Fällen eine
Haltungsaufrichtung oft möglich wird, wenn ein zusätzlicher optischer
Reiz in Form einer visuellen Rückkopplung geboten wird (Der Proband
sieht sich im Halbspiegel oder im Monitor). Dadurch wird das fokale
visuelle System stimuliert und damit wiederum der Eingangsreiz
verstärkt. Um Haltungsschwächen daher ganzheitlich zu betrachten,
schlagen wir eine zweistufige Diagnostik vor, die orthopädische und
neurologische Prinzipien integriert (Abb. 12).
Zusammenfassung
Körperhaltung ist das Ergebnis eines
Regelungsvorgangs durch das ZNS. Sie ist niemals statisch, sondern
besteht immer in einem dynamischen Gleichgewicht. Der Körper ist bemüht,
das externe Gleichgewicht zu halten und verändert dazu interne
Gleichgewichtszustände. Labile interne Gleichgewichtszustände sind durch
das Verlagern von Körpersegmenten gegeneinander definiert, die sich in
orthopädischen Defiziten manifestieren können (Hohlrücken, Rundrücken,
Beckenkippen etc.) und für die Medizin Überlastungsphänomene postuliert
(muskuläre Überlastung, Gelenkverschleiß). Ob und in welcher Form der
Körper Haltepositionen aufrechterhalten kann, hängt nicht nur vom
muskulären Potential (Kraftvermögen, E-nergiereserven) ab, sondern
primär von der neuronalen Ansteuerung haltungsrelevanter Muskelgruppen
in Form motorischer Programme. Diese sind weitgehend im Mittelhirn
realisiert und abhängig von sensorischer Information aus Haut, Muskeln,
Sehnen, Gelenken und dem Gleichgewichtsorgan. Hinzu kommen Informationen
aus dem visuellen ambienten System.
Bei Defiziten in der neuronalen Informationsverarbeitung können
Körperpositionen nicht eingenommen bzw. nicht gehalten werden. Um den
Anteil visueller Information an der Haltungsregelung zu beurteilen, wird
ein zweistufiger Vergleichstest mit geöffneten und geschlossenen Augen
empfohlen.
Autoren:
Dr. rer. nat. Oliver Ludwig:
Diplom-Biologe mit Arbeitsschwerpunkt Haltungs- und Bewegungsanalysen.
Wissenschaftlicher Leiter der Aktion „Kid-Check“- Haltungsuntersuchungen
an Kindern und Jugendlichen
Prof. Dr. med. Eduard Schmitt:
Leitender Oberarzt der orthopädischen Poliklinik Homburg,
medizinischer Leiter der Aktion „Kid-Check“- Haltungsuntersuchungen
an Kindern und Jugendlichen.
Korrespondenzadresse:
Dr. rer. nat. Oliver Ludwig
Niederbexbacherstr. 36
66539 Neunkirchen
o.ludwig@rz.uni-sb.de
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